Berlin (Christoph Radbruch, DEKV-Vorsitzender) – Helmut Schmidt hat einen schönen Satz hinterlassen: „Charakter zeigt sich in der Krise“. Er wusste genau, wovon er redet. Als junger Hamburger Innensenator hat er bei der schweren Sturmflut 1962 gezeigt, was zu tun ist.
Wenn man in komplexen Situationen ohne ausreichende Informationen schnelle Entscheidungen treffen muss, ist ein wichtiges Element bei der Entscheidungsfindung der eigene Wertekanon. Deswegen gilt in Abwandlung des Satzes von Helmut Schmidt auch der Satz: Welche Werte uns wirklich wichtig sind, zeigt sich in der Krise. Und alle schauen noch genauer hin als sonst. Damit wird die Corona Krise auch zum Charaktertest für kirchliche Krankenhäuser.
Umsetzung von Werten
Es ist aber schwierig, aus der Bibel einen Satz von allgemeinen, für alle und überall geltenden Werten zu destillieren. Christliche Werte werden immer aus dem jeweiligen Verständnis christlicher Ethik abgeleitet und sind im Sinne der Verantwortungsethik vom jeweiligen Kontext abhängig. Aber wenn man die Leitbilder verschiedener kirchlicher Krankenhäuser betrachtet, gibt es einen breiten Konsens, dass neben guter Hochleistungsmedizin und -pflege der Blick auf den ganzen Menschen mit seinen körperlich, seelisch, geistig und spirituell Aspekten das herausragende Merkmal ist. Seine Hoffnungen und Ängste, seine Lebenshaltung und seine spirituellen Bedürfnisse sollen ebenso ernst genommen werden wie seine körperlichen Leiden. Deswegen sind die persönliche Ansprache und Zuwendung, die Einbeziehung von Familie und persönlichem Umfeld sowie die würdevolle Begleitung von Sterbenden ein wichtiges Anliegen.
Nun ist die Aufgabe, diese Werte in erfolgreiche „Geschäftsmodelle“ umzusetzen, damit sie im Rahmen der wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen praktiziert werden können, schon im normalen Alltag eine Herausforderung für die Führung von kirchlichen Krankenhäusern. Das gilt umso mehr in der Krisensituation der Pandemie, wenn in komplexen Entscheidungssituationen unter Zeitdruck Werte miteinander in Konflikt geraten. Aber dann zeigt sich auch, was Werte wirklich wert sind. Grundlegend ist, dass diese Diskussion in den Krisenstäben nicht ausgeblendet und den Patienten, Angehörigen und Mitarbeitenden transparent kommuniziert wird.
Umgang mit Dilemmata
Ein konkreter Test des diakonischen Wertekanons war die Frage der gerechten Zuteilung von knappen Ressourcen. Zu Beginn der Pandemie waren alle von der Befürchtung geleitet, dass wie in Italien und Spanien das Gesundheitswesen überfordert wird. Deswegen wurden die Mitarbeitenden in Krankenhäusern mit den Fragen der Triagierung, die in dieser Situation notwendig werden könnte, konfrontiert.
Von jungen Ärztinnen und Ärzten haben wir gehört, dass die Berichte aus Italien und Spanien ihnen Angst machen, in eine Situation zu kommen, durch die Verweigerung von Behandlung über Leben und Tod zu entscheiden. Zu dieser Frage gibt es hilfreiche Stellungnahmen der medizinischen Fachgesellschaften. Der Deutsche Ethikrat spricht dennoch von einer Dilemma-Situation, in die Mediziner gestellt werden. Daher sah er die Notwendigkeit, dass diese Empfehlungen von den Krisenstäben in den Krankenhäusern adaptiert und als verbindliche Handlungsanweisung an die Mitarbeitenden weitergegeben werden.
Darüber hinaus wurde alleine die Möglichkeit der Triagierung von Patienten, Angehörigen sowie Mitarbeitenden im Gesundheitswesen als psychisch belastend erlebt Einige kirchliche Häuser haben deswegen psychosoziale Netzwerke aus dem in der Klinik verfügbaren psychosozialen Fachpersonal der Bereiche Klinikseelsorge, psychosoziale kollegiale Peers, innerklinische Krisenintervention, psychologische, psychotherapeutische, psychiatrische, psychosomatische Versorger usw. gebildet und als Ansprechpartner zur Verfügung gestellt. Allein schon die Möglichkeit, offen und ohne Tabu über diese Belastung reden zu können, hat entlastend gewirkt.
In den vergangenen Tagen verschiebt sich der Fokus in der Diskussion in den Häusern auf das ethische Dilemma von Schutz versus Freiheitseingrenzung, die teilweise massiv und teilweise auch langfristig sind. Es regt sich Protest, wenn Ehefrauen ihre sterbenden Ehemänner nicht auf der Palliativstation besuchen dürfen oder Vätern verboten wird, bei der Geburt ihrer Kinder dabei zu sein. Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilje, forderte, dass es entscheidend sei, dass endlich auch für Seelsorgerinnen und Seelsorger ausreichend Schutzkleidung bereitgestellt werde, damit die unverzichtbaren Schutz- und Hygienestandards eingehalten werden könnten. Was ein Wert wie „Einbeziehung von Familie und persönlichem Umfeld sowie die würdevolle Begleitung von Sterbenden“ wirklich wert ist, zeigt sich auch daran welche Ressourcen für die Umsetzung dieses Wertes zur Verfügung gestellt werden.
Zukunft der evangelischen Krankenhäuser
Auch beim Blick in die Zukunft wird die Pandemie zum Stresstest der evangelischen Krankenhäuser. Auf der einen Seite gibt es zwar die Hoffnung, dass durch die Pandemie eine Garantie für die bestehenden Krankenhausstrukturen gegeben ist. Sie zeige: Die Bewältigung der Corona -Krise sei nur möglich, weil es so viele kleine Krankenhäuser gibt, denn dadurch hätten auch Ärzte und Pflegekräfte in strukturschwächeren Regionen intensivmedizinische Erfahrung.
Grundsätzlich sind die Pandemie und die Krisenbewältigung durch die Politik aber als ein Beschleuniger für vorhandene politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zu verstehen. Deswegen ist auch zu vermuten, dass die Diskussionen um die Reform der Krankenhausstrukturen beschleunigt werden wird. Auf der einen Seite wird voraussichtlich die auch in der Bewältigung der Pandemie leitende Handlungsmaxime stehen, dass keine offene Rationalisierung (Triage) stattfinden soll. Auf der anderen Seite werden die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie die schon ohnehin knappen zur Verfügung stehenden Ressourcen weiter radikal vermindern. Dadurch wird die Frage der Versorgungseffizienz eine herausgehobene Rolle spielen. Die Politik wird im Nachhinein sehr genau prüfen, wer welchen Beitrag bei der Bewältigung der Krise geleistet hat. Die Hoffnung, dass durch die Pandemie eine Garantie für die bestehenden Krankenhausstrukturen gegeben ist, wird sich deswegen wahrscheinlich nicht erfüllen. Es wird nicht ausreichend sein, nur auf die Bestandswahrung und die Trägervielfalt zu verweisen. Die Pandemie wird daher auch die Klärung der Frage beschleunigen, was evangelische Krankenhäuser über die reine Bestandwahrung hinaus für die Patientenversorgung leisten. Das Ziel, dass die evangelischen Krankenhäuser wirtschaftlich überleben, ist zwar ein notwendiges, aber kein ausreichendes, um in dieser zu erwartenden Debatte zu bestehen.