Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sind die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe in fast allen ländlichen Kreisen, aber auch den meisten Städten Ostdeutschlands schlechter als in anderen Regionen. Sie teilen dieses Schicksal mit den Bewohnern einiger westdeutscher Städte, vor allem im Ruhrgebiet, aber auch im Südwesten von Rheinland-Pfalz, im Saarland sowie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
Zu diesem Ergebnis kommt die neue Studie „Teilhabeatlas Deutschland – Ungleichwertige Lebensverhältnisse und wie die Menschen sie wahrnehmen“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und der Wüstenrot Stiftung. Die Studie untersucht, welche gesellschaftlichen Teilhabechancen die 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte ihren Bewohnern bieten. Gemessen wurde die Teilhabe anhand einer Reihe von Indikatoren wie der Quote von Sozialleistungsempfängern, der Höhe der Einkommen, der Verfügbarkeit schneller Internetzugänge oder der Erreichbarkeit von Ärzten, Supermärkten und weiteren alltäglichen Dienstleistungen.
Die Studie ging auch der Frage nach, wie die Menschen diese tatsächlichen Lebensbedingungen wahrnehmen – gleich, besser oder schlechter, als die objektiven Zahlen erwarten lassen. Die Autoren führten dazu in 15 Regionen insgesamt fast 300 Einzelinterviews und Gruppengespräche. „In den Gesprächen zeigte sich, dass die Menschen ihre Lebensbedingungen weitgehend realistisch einschätzen“, fasst Manuel Slupina, Mitautor der Studie, zusammen. „Mit den Unterschieden bei den Teilhabechancen gingen sie recht nüchtern und pragmatisch um.“
Zielbegriff der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ überdenken
Der Politik empfehlen die Autoren, von dem Zielbegriff der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ abzulassen und stattdessen die regionale Vielfalt zur Grundlage der Politik zu machen. Der unbestimmte Begriff der Gleichwertigkeit verleitet dazu, Dinge gegeneinander aufzuwiegen, die wenig miteinander zu tun haben – beispielsweise die notärztliche Versorgung mit der Nähe zur Natur. Gerade die Bewohner abgelegener ländlicher Gegenden würden davon profitieren, wenn die Politik in verschiedenen Bereichen wie zum Beispiel der Elektrizitätsversorgung oder der IT-Infrastruktur eine bundesweit einheitliche Grundversorgung definieren und garantieren würde. Die Bürgerinnen und Bürger wüssten dadurch genau, auf welche Leistungen sie Anspruch haben, und könnten diese im Zweifelsfall einklagen.
Verlässliche Gesundheitsversorgung in allen Regionen
Aus der Sicht des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV) muss eine verlässliche Gesundheitsversorgung Teil dieser garantierten Grundversorgung sein. In 118 von 401 Landkreisen und kreisfreien Städten sind evangelische Krankenhäuser Teil der Gesundheitsversorgung. Im Sinne der Studie befindet sich ein Viertel dieser Krankenhäuser in dem Cluster „Großstädte mit Problemlagen“. Knapp 13 Prozent der evangelischen Krankenhäuser sind im Cluster „Abgehängte ländliche Regionen“ zu finden.
„In vielen Städten und Landkreisen sichern schon heute evangelische Kliniken die Gesundheitsversorgung. Besonderes dort, wo die Rahmenbedingungen herausfordernd sind, brauchen die Menschen einen verlässlichen und ideenreichen Gesundheitspartner an ihrer Seite“, so Christoph Radbruch, Vorsitzender des DEKV. „In Zukunft müssen dazu auch neue Modelle jenseits der Sektorengrenzen entwickelt und diskutiert werden. Die evangelischen Krankenhäuser sind bereit, diesen Wandel mitzugestalten.“
Berlin, 28. August 2019
Mehr zum Teilhabeatlas Deutschland 2019:
Ungleichwertige Lebensverhältnisse und wie die Menschen sie wahrnehmen
https://www.berlin-institut.org/publikationen/studien/teilhabeatlas_deutschland