Praxisorientiertes Konzept für die  

  qualifizierte Versorgung von Menschen  

  mit Behinderung  

18. Februar 2025

Herr Schmidt ist 36 Jahre und lebt in einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigung. Seine kognitiven Fähigkeiten sind seit frühester Kindheit stark eingeschränkt, sodass er nicht sprechen kann. Die non-verbale Kommunikation beschränkt sich auf die grundlegendsten Bedürfnisse. Seit kurzer Zeit hat sich das Verhalten von Herrn Schmidt verändert. Mit dem Kopf schlägt er an Gegenstände, wirft sich auf den Boden und schlägt sich mit der Faust ins Gesicht.

Für Diagnostik und Behandlung von Menschen mit intellektueller oder komplexer Beeinträchtigung brauchen Ärzt:innen ein spezialisiertes Behandlungswissen und entsprechende Praxiserfahrung. Menschen mit schwerer Intelligenzminderung können bei einer Erkrankung oder Verletzung ihre Symptome und Schmerzen häufig nicht beschreiben. Meist sind Verhaltensänderungen wie Unruhe, Aggression oder Rückzug einzige Warnzeichen für einen medizinischen Behandlungsbedarf. Abhängig vom vorliegenden Syndrom oder Störung können bei diesen Patient:innen auch Organveränderungen vorliegen. Dies bedeutet, dass akute Erkrankungen andere körperliche Symptome aufweisen können als bei Menschen ohne diese Beeinträchtigung.

Im Rahmen der ausführlichen Anamnese fällt auf, dass Herrn Schmidts Schläge vermehrt auf sein rechtes Auge zielen. Ein MRT unter Narkose fördert keine Ursache zu Tage.

Durch eine augenärztliche Untersuchung kann allerdings eine schwerwiegende krankhafte Veränderung des rechten Augapfels festgestellt werden. Nach operativer Entfernung des zerstörten Auges hört Herr Schmidt auf sich selbst zu verletzten und sein Verhalten wird wieder normal.

Müssen Menschen mit intellektueller oder komplexer Beeinträchtigung im Krankenhaus behandelt werden, haben sie besondere Bedarfe – sie brauchen mehr Betreuung, Diagnosen müssen von verschiedenen Fachärzt:innen mit Expertise für die Patient:innengruppe interdisziplinär gestellt werden. Auch die Kommunikation muss auf ihre Möglichkeiten abgestimmt sein. Doch nur wenige Krankenhäuser haben ärztliches und pflegerisches Personal, dass für die medizinische Versorgung und den Umgang mit dieser Patient:innengruppe geschult ist. Daher können Menschen mit intellektueller oder komplexer Beeinträchtigung oft nur in weiter entfernten Krankenhäusern erfolgreich behandelt werden, die auf ihre besonderen Bedarfe eingestellt sind. Zudem sind die Behandlungskapazitäten in diesen Häusern begrenzt. Im Krankheitsfall sind dies zusätzliche Belastungen für die Patient:innen und ihre An- und Zugehörigen. Um diese Situation zu verbessern, besteht Handlungsbedarf. Gefragt ist eine Allianz aus Politik, den Fachgesellschaften, der Selbstverwaltung und den Betroffenenverbänden – gefragt ist im Grunde unsere gesamte Gesellschaft.

Die 1,9 Millionen Menschen mit seelischer oder geistiger Behinderungen1 brauchen einen leichteren Zugang zur gesundheitlichen Versorgung sowie medizinisches und pflegerisches Personal2, 3, , das für die Bedarfe dieser besonderen Patient:innengruppe geschult ist.

  Unser Zielbild  

Evangelische Krankenhäuser setzen sich aufgrund ihres christlichen Menschenbildes für eine gleichwertige und respektvolle Behandlung aller Patientinnen und Patienten ein und haben weitreichende Erfahrung in der Versorgung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung und schweren Mehrfachbehinderungen. Basierend auf dieser Expertise haben sich die evangelischen Krankenhäuser und der Deutsche Evangelische Krankenhausverband (DEKV) das Ziel gesetzt, ein Gesamtsystem zur qualifizierten Versorgung von Menschen mit Behinderungen zu entwickeln. Eine zentrale Rolle spielen dabei Zentren für Inklusive Medizin. Für eine größtmögliche Praxisorientierung des Konzepts fließt die Expertise von Medizinerinnen und Medizinern, Pflege und weiteren Vertreterinnen und Vertretern der Gesundheitsfachberufe aus den evangelischen Krankenhäusern ein.

Patientenkollektiv in der Konzeption für die qualifizierte Versorgung von Menschen mit Behinderung

• Liste der Leitdiagnosen

• Liste der alternativen Leitdiagnosen

• Liste der alternativen Leitdiagnosen (lang)

  So sind wir vorgegangen  

Im ersten Projektschritt haben wir das hier vorgestellte Konzept orientiert an der Zentrums-Regelung nach § 136 c Abs. 5 SGB V entwickelt. Die Zentren für Inklusive Medizin sollen die Behandlungsqualität für die 1,9 Millionen Menschen mit Bewegungsstörungen, geistiger- und/oder seelischer Behinderung in der Gesamtversorgung spür- und messbar verbessern, die Versorgung von Menschen mit schweren Behinderungen stärken und weiterentwickeln.

  Nächste Schritte  

Bis September 2025 erarbeiten Fachexpert:innen aus den evangelischen Krankenhäusern unter der Moderation des DEKV Vorschläge zur Verbesserung und Stärkung der Regelversorgung für Menschen mit Behinderungen. So entsteht ein Gesamtsystem zur qualifizierten Versorgung von Menschen mit Behinderungen. Die Qualitätskriterien und Vorschläge zu notwendigen Strukturen und Prozessen werden mit konkreten Umsetzungsvorschlägen für eine Refinanzierung und Vergütung einhergehen müssen. Diese sollen den erhöhten Ressourcen-, Personal- und Zeitaufwand innerhalb des Krankenhausbudgets abbilden. Beide Projektphasen werden einem Reviewprozess unterworfen, zu dem Vertreter:innen der Ärzteschaft, Pflege, Psychologie und Diakonie sowie von Betroffenenverbänden, Leistungserbringern, Kostenträgern und Sozialverbänden eingeladen sind.

Sie haben Fragen und Anregungen oder möchten sich in den Prozess einbringen?

Ansprechpartner
Dr. Johannes Egerer
Referent Medizin, Pflege und Qualität

 

 

+49 (0)30 200 514 19 10

 

+49 (0)173 215 61 98

 

1 Statistisches Bundesamt: Schwerbehinderte Menschen am Jahresende. Stand 19.7.2024. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/ Gesundheit/Behinderte-Menschen/Tabellen/geschlecht-behinderung.html (Zugriff am 01.08.2024)

2 Committee on the Rights of Persons with Disabilities. Concluding observations on the combined second and third periodic reports of Germany. United Nations, 3. Oktober 2023

3 Bündnis deutscher Nichtregierungsorganisationen zur UN-Behindertenrechtskonvention (Hrsg.). Menschenrechte Jetzt! Gemeinsamer Bericht der Zivilgesellschaft zum 2. und 3. Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Deutschland. Kassel. Stand Juni 2023